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Reden und Videos

Rede zum Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz

 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

 

Die Hochglanzbroschüre ist längst verteilt, der Showroom an der Berliner Friedrichstraße ist eingerichtet und mehr oder weniger gut besucht.

Die Pressekonferenzen und auch zahlreiche Interviews sind gegeben. Nun, Frau Ministerin, erreicht das Artikelgesetz, das Kernstück Ihrer Attraktivitätsoffensive, endlich nach langem Warten den Bundestag.

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Ende der Wehrpflicht, aber auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann es uns nicht egal sein, wer sich mit welcher Motivation und mit welcher Qualifikation für den Dienst bei der Bundeswehr entscheidet, und deshalb ist das Thema Attraktivität auch so wichtig. Ebenso wie ich wissen viele Kolleginnen und Kollegen aus direkten Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten, dass die Attraktivität und insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Dienst von zentraler Bedeutung sind und dass es eine große Unzufriedenheit gibt, weil die Bundeswehr in diesem Bereich der Gesellschaft und dem Standard, der dort herrscht, an vielen Stellen hinterherhinkt.

 

Wir Grünen haben jahrelang Verbesserungen gefordert, und auch jetzt müssen wir an einigen Details der Regelungen im Gesetzentwurf Kritik üben. An manchen Stellen ist mehr möglich. Aber es gibt eine Kritik, mit der wir uns nicht gemein machen wollen. Damit meine ich den Unmut, den einige ältere Herren mit Bundeswehrhintergrund in den letzten Monaten geäußert haben, die offensichtlich meinen, dass eine Scheidung automatisch zu einer Bundeswehrlaufbahn dazugehört und es sich dabei nur um ein weinerliches Wellness-Wohlfühlthema handelt. Diese Herren haben von der Lebensrealität junger Menschen und auch von der Lebensrealität der Soldatinnen und Soldaten keine Ahnung.

 

Auch wenn mit dem Attraktivitätssteigerungsgesetz an einigen Schrauben gedreht wird, können Sie das Thema nicht von Ihrer To-do-Liste streichen, Frau Ministerin. Nicht nur aus den vielen Rückmeldungen, die wir als Abgeordnete von Bundeswehrangehörigen erhalten, sondern auch aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen und Umfragen wissen wir, dass die Stimmung in der Bundeswehr schlecht ist, wenn es um die Bundeswehrreform und ihre Umsetzung geht. Das fängt nicht erst bei den Beschaffungsdesastern und den Problemen beim Altgerät an; es setzt sich mit maroden Stuben und unnötigen Versetzungen fort und hört auch nicht bei der extremen Einsatzbelastung von Soldatinnen und Soldaten mit bestimmten Fähigkeiten auf, bei denen die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehalten werden. Davon zeichnet der Bericht des Wehrbeauftragten aus der letzten Woche ein ziemlich drastisches Bild, und er äußert auch deutliche Kritik an der Neuausrichtung der Bundeswehr.

 

Diese Probleme sind nicht alle vom Himmel gefallen, und die Reform hat dabei versagt, sie zu lösen. Sie hat sogar im Endeffekt dazu beigetragen, sie noch zu verstärken. Statt zukunftsfähige Strukturen zu schaffen, wurde einfach alles abgeschmolzen. Das hat dann die Überbelastung der Soldatinnen und Soldaten zur Folge. Das hat zur Folge, dass Gerät nur noch in unzureichender Quantität und mangelhafter Qualität zur Verfügung steht und langfristig in vielen Bereichen die Durchhaltefähigkeit infrage gestellt wird. Von der Finanzierbarkeit will ich gar nicht sprechen.

 

Insofern muss man feststellen: Das Prinzip „Breite vor Tiefe“, auf dem die ganze Bundeswehrreform beruht, hat versagt.

An der Stelle frage ich mich, wo die angekündigte Evaluation der Bundeswehrreform bleibt, gerade weil man so viele Probleme erkennen könnte.

 

Sie müssen also umdenken und umsteuern. Sie müssen sich in Abstimmung mit den europäischen Partnern auf bestimmte Fähigkeiten konzentrieren. Denn wenn Sie es mit dem Thema Attraktivität ernst meinen, dann darf man die überfälligen Kurskorrekturen nicht länger auf die lange Bank schieben.

Meine Damen und Herren, wie die Soldatinnen und Soldaten die Bundeswehr und ihren Dienst dort wahrnehmen, hat auch mit einem anderen Thema zu tun: mit der Fürsorge, also mit dem Umgang mit den Soldatinnen und Soldaten, die der Bundestag mit seiner Mehrheit in einen gefährlichen Auslandseinsatz entsendet hat und die verwundet oder an der Seele geschädigt zurückgekehrt sind. Damit komme ich wieder zu den konkreten Regelungen im Artikelgesetz. Denn bisher sind die Entschädigungszahlungen für diejenigen, die einen Einsatzunfall nach dem Jahr 2002 erlitten haben, höher als für diejenigen, die Vergleichbares vorher erlebt haben. Das ist Willkür und auch ungerechte Ungleichbehandlung.

 

Wir Grünen fordern in unserem Antrag, über den nachher abgestimmt wird, diesen Stichtag aufzuheben und dieses Problem komplett zu beseitigen. Denn die uneingeschränkte Fürsorgepflicht des Dienstherrn muss unabhängig vom Status der Soldatinnen und Soldaten und von irgendeinem willkürlich gewählten Stichtag gelten.

 

Das Artikelgesetz sieht in diesem Punkt eine Änderung vor: Der Stichtag wird auf den 1. Juli 1992 zurückdatiert. Damit wird auch der Kreis der Betroffenen, die diese Ungerechtigkeit erleben, verkleinert. Aber auch Ihr neuer Stichtag war sehr willkürlich gewählt. Wir haben Sie nicht nur bei der ersten Beratung unseres Antrages darauf hingewiesen, dass es auch vor diesem Zeitpunkt Soldaten im Auslandseinsatz gab, zum Beispiel im Rahmen der UN-Mission in Kambodscha, sondern wir haben es auch im Ausschuss diskutiert und entsprechend nachgefragt. Das Ministerium hat beteuert, es gebe keine Fälle.

 

Deshalb freue ich mich, dass Sie - wenn ich den Kollege Otte richtig verstanden habe - diese Anregung aufgegriffen haben, auch wenn Sie sicherlich gleich wieder gegen unseren Antrag stimmen werden, und den Stichtag jetzt wenigstens noch weiter zurückdatieren wollen, damit diese Ungerechtigkeit endgültig beseitigt wird.

 

Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, nicht nur von mir, sondern auch von der Kollegin Wagner wurden viele der Schrauben angesprochen, an denen man noch drehen muss, wenn man es mit dem Thema Attraktivität ernst meint. Wir hoffen, dass Sie sich im Rahmen der Beratungen auch an anderen Stellen für die guten Anregungen aus der Opposition offen zeigen. Denn, Frau von der Leyen, wenn Sie es mit der Attraktivitätsoffensive ernst meinen, dann müssen Sie erkennen, dass es noch einige Baustellen gibt, und zwar nicht nur im Rahmen des Artikelgesetzes, sondern insbesondere auch darüber hinaus.

 

Vielen Dank.